Werkanalyse: Vesperae solennes de confessore, KV 339


Warum Mozart auch ein bisschen Schweizer ist. Von André Fischer.

1. Dixit

Nach wuchtiger Eröffnung im homophon syllabischen Stil hören wir den Chor schon bald gestaffelt und in paarweise versetzt eintretenden Stimmen, was den Satz so richtig in Fahrt bringt. Mit zwei auffälligen Einklangsstellen (Unisoni) und einem kurzen, durch unerwartetes Innehalten bewirkten Unterbruch (Fermate) strukturiert Mozart den Text von Psalm 109 auf seine ganz eigene, zwingende Weise. Die Sonatenform, Haupt-Errungenschaft der klassischen Instrumentalmusik, trägt das Ihre zur unübertroffenen Fasslichkeit dieses Satzes bei: Auf die Worte «Tu es sacerdos in æternum  –  Du bist der Priester auf ewig» hören wir in der Kontrasttonart den sogenannten Seitensatz im galanten Stil.

Lautmalerisch geht es weiter mit «Confregit … reges  –  Er hat zersprengt … die Könige»: Kühne Harmonik (Faux bourdon-Rückungen) und schroffe, zum Textinhalt passende Dynamik bieten in krasser Eindrücklichkeit das, was man vom Durchführungsteil eines Sonatensatzes erwartet. Nach der erwähnten Fermate – ungefähr in der Hälfte des Satzes – verlässt Mozart das Sonatenform-Modell und verfährt von jetzt an rückläufig: «Conquassabit capita  –  Er wird zerrütten die Anführer» passt vom Affekt her perfekt zum vorher beschriebenen Bild, sagt er uns mit musikalischen Mitteln, und «De torrente … bibet  –  Aus dem Wildbach … wird er trinken» bezieht sich natürlich auf den, «dem die Herrschaft obliegen wird –  Tecum pricipium»: Textlich Verwandtes vertont Mozart in gut vernehmbarer Analogie.

Den nächsten magischen Moment erleben wir, dramaturgisch perfekt platziert, beim Einsatz des Soloquartetts zur sogenannten Doxologie «Gloria Patri et Filio et Spiritui sancto Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist»:

Mozarts Vorgehen erinnert nun plötzlich an ein Solokonzert, genauer gesagt an die Stelle, wo das Soloinstrument mit seinem Eintritt die Expositions-Wiederholung markiert; nur dass hier, im Dixit, schon bald wieder der Chor mit einer stark verkürzten Reprise des Hauptsatzes einsetzt.

Welch’ Freiheit sich Mozart doch nimmt – formal, stilistisch, satztechnisch –, um das, worum es ihm geht, in maximaler Klarheit auf den Punkt zu bringen! Wie er die Mittel seiner Zeit – altbewährte und eben erst in Mode gekommene – voll ausschöpft und ungeniert miteinander kombiniert, darf eklektizistisch (im besten Sinne!) genannt werden. Knapper und packender könnte man diesen Psalmtext nicht in Musik setzen; und so harren wir nun atemlos und gespannt der Dinge, die noch folgen werden.

Übrigens bin ich mir absolut sicher, dass der markante Hauptgedanke zu den Worten «Sicut erat in principio  –  Wie es war im Anfang» bewusst oder unbewusst den Wettinger Pater und Stiftskapellmeister Alberich Zwyssig inspirierte … zu einer Melodie, die 1841 als Schweizerpsalm bekannt wurde und seit 1981 unsere Nationalhymne ist:

Ausschnitt KV 339, 1. Satz

Die edle Formel verwendet Mozart später im 4/4-Takt in seinem Ave verum corpus:

Ausschnitt KV 618

2. Confitebor

War dem Soloquartett im Eröffnungssatz nur gerade der Schluss – die Doxologie – anvertraut, bestreitet es nun im Psalm 110 den ganzen Mittelteil. Dieser behandelt ausführlich das Vermächtnis Gottes (testamentum suum): Diejenigen werden erlöst, die seine Gebote (mandata ejus) befolgen und die Werke seiner Hände als wahr und recht erkennen (opera manuum ejus veritas et judicium).

Vor diesem Mittelteil exponiert der Chor ein gross angelegtes Glaubensbekenntnis, erneut als Sonatensatz mit Themengruppen in der Haupt- und Seitensatztonart sowie anschliessendem Durchführungsteil, der in knapper Folge drei auffällige Molltonarten durchläuft: Gott ist denen gegenüber gnädig, barmherzig und gerecht (misericors et miserator et justus), die vor sich und vor dem Leben Ehrfurcht zeigen (timentibus se).

Nach dem erwähnten, solistisch besetzten Mittelteil – ungefähr in der Hälfte des Satzes – ergänzen Chor und Soli in einer Scheinreprise ihre Aussage um den springenden Punkt: Gottes Name ist nicht nur heilig, sondern Ehrfurcht gebietend (sanctum et terribile nomen ejus), weshalb Ehrfurcht vor Gott – so lässt uns Mozart von der Sopranistin verkünden – der Beginn aller Weisheit ist (initium sapientiæ timor Domini).

Nach einer zweiten, kürzeren Episode des Soloquartetts, die aus dem Gesagten ein Fazit zieht («Intellectus bonus omnibus facientibus eum  –  Gnädiges Verständnis allen, die in seinem Sinne handeln»), beschliesst der Chor auf die Worte der Doxologie den Satz mit der effektiven Reprise der Haupt- und Seitensatzmusik.

3. Beatus vir

Der dritte Satz auf den Text von Psalm 111 ist als konzertierendes Bravourstück das eigentliche Herz der Vesperæ: In stetem Wechsel wetteifern hier Chortutti und Soloquartett miteinander und gegeneinander. Offener denn je treten die Prinzipien der Sonatenform zutage, wobei erstens dem Durchführungsteil mehr Gewicht zukommt als üblich, und zweitens die Reprise mit vertauschten Gliedern auftritt – ein Pendant zum Eröffnungssatz mit seiner rückläufig angelegten zweiten Hälfte.

Ansonsten: viel mächtig Jubilierendes («Potens in terra erit semen ejus –  Mächtig wird auf Erden sein Geschlecht»), Aufsteigendes («Exortum est … lumen rectis  –  Aufgegangen ist … ein Licht den Rechtschaffenen»), Leichtes («Jucundus homo qui miseretur et commodat –  Beliebt ist der Mensch, der sich erbarmt und bequemt»). Musik als ein erfrischendes Fest der Sinne!

4. Laudate pueri

Der vierte Satz – auf den Text von Psalm 112 – ist dann in mehrfacher Hinsicht das genaue Gegenteil vom dritten: Mozart lässt den Chor eine Doppelfuge im gelehrten stile antico ausführen, ganz ohne Beteiligung des Soloquartetts. Und da es der Salzburger Erzbischof Colloredo bezüglich seiner liturgischen Musik kurzgehalten mochte, überlappen sich zu Beginn von Mozarts Vertonung die Texte: Bis zu drei Psalmzeilen ertönen in den Chorstimmen gleichzeitig! Exponiert werden also nacheinander zwei Themen (Soggetti): ein aufsteigendes in langen Notenwerten und ein als Tonleiter absteigendes in kurzen. Danach treten in der Seitensatztonart beide Themen kombiniert auf, Thema #2 zudem in Engführung (Stretta).

Zurück in der Ausgangstonart hören wir Thema #2 als in Oktaven enggeführtes Stimmenpaar (Bicinium), sozusagen als Durchführung des Sonatensatzes. Es folgt, quasi als Reprise, Thema #1 in Kombination mit seiner eigenen Spiegelung (Inversion), zunächst versetzt, später simultan. Und zum Schluss hören wir, als Coda, Thema #1 als in Oktaven enggeführtes Bicinium. Mozarts hochkomplexes Laudate pueri kann es also locker mit den grössten Vorbildern der Imitationskunst aufnehmen; rätselhaft nur, warum er für sein kontrapunktisches Meisterstück ausgerechnet diesen Psalmtext wählte. Man vergleiche das einmal mit den weihnächtlich beschwingten Vertonungen von Händel oder später Mendelssohn – da steht Mozart mit seiner Auffassung offensichtlich völlig konträr dazu!

5. Laudate Dominum

Diese Konzertarie der Sopranistin im stile moderno auf den Text von Psalm 116 gehört zu den bekanntesten Kompositionen Mozarts und steht erneut in grösstmöglichem Kontrast zum eben verklungenen Satz. Die Nummer ist an zauberhafter Innigkeit nicht zu überbieten; ich wage hier auch keine analytische Ausdeutung – bitte einfach geniessen!

6. Magnificat

Die abschliessende Nummer kann als Synthese der bisherigen fünf Sätze aufgefasst werden: Sie greift den Aspekt der vorangegangenen Arie für Solosopran auf, kombiniert ihn aber mit grossflächig blockartigen Aussagen sowohl des Chores als auch des Soloquartetts. Ihre formale Anlage ist nun so deutlich dem Sonatensatz verpflichtet, dass Mozart hier stilistisch quasi in Reinkultur, ’’auf der Höhe seiner Zeit’’ komponiert. Dürfen die ersten fünf Sätze inhaltlich als Verheissungen gelten, so stellt das Magnificat – übrigens der einzige neutestamentliche Text – die Erfüllung dieser Verheissungen dar. Und erneut muss festgestellt werden: knapper und packender als dieses Magnificat kann man sich einen Schlusssatz kaum vorstellen!

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